Vor vielen hundert Jahren lebte im fernen Land Indien in einem kleinen Park eine Hummel. Fröhlich summte und brummte sie tagaus tagein von Blüte zu Blüte. Die kleine Hummel konnte man schon von weiten gleich erkennen.
Sie hatte nämlich - keiner wusste warum - zwei verschieden-farbige Flügel: der eine leuchtete mehr blau und der andere schimmerte irgendwie mehr grün.
Außerdem waren die beiden Flügel nicht gleich lang, so dass die kleine Hummel immer halb im Schrägflug unterwegs war.
Die kleine Hummel holte sich den süßen Blütennektar und brachte ihn in ihre schöne Baumwohnung in der Dattelpalme. Dort hatte sie in einem Regal schon zweiundzwanzig Gläser wundersüßen Honigs gesammelt!
Alle mochten die kleine Hummel, denn sie war immer gut gelaunt und sang und pfiff den lieben langen Tag die schönsten Hummellieder. Alle mochten sie - außer den Wespen, den Bienen und den Libellen.
Die konnten sie nicht leiden, denn die kleine Hummel bekam oft von anderen Käfern und Krabbeltieren, die in den Blütenblättern wohnten, eine Extraportion Blüten-Nektar geschenkt. Oft brummten und summten Bienen, Wespen und Libellen deshalb ganz schön giftig, wenn die kleine Hummel ahnungslos vorbeikam. Dann versteckte sich die kleine Hummel schnell unter einem Blatt oder in einem großen Blütenkelch und wartete bis die Gefahr vorbei war.
Vor Menschen musste sich die kleine Hummel auch in Acht nehmen: denn die schauten meist nicht richtig hin, wenn sie vorbeikam.
Alles, was fliegt, brummt, und von Blüte zu Blüte fliegt, außerdem irgendwie gelb war, schien bei den meisten Menschen gleich eine stechwütige Biene oder eine gereizte Wespe zu sein. Sofort schnappten sich die meisten Menschen irgend etwas, womit sie die Brummviecher verjagen oder sogar totschlagen können: eine Fliegenklatsche, einen Schuh, ein Buch oder manchmal streuten sie sogar Gift!
Doch von diesen Gefahrzonen einmal abgesehen führte die kleine Hummel ein wirklich sehr angenehmes Leben.
Eines schönen Morgens, die Sonne ging gerade auf, startete die kleine Hummel wie gewohnt zu ihrem Frühstücksflug. Wie immer brummte sie auf ihre unnachahmliche Art im Schrägflug über die Wiese.
Plötzlich stoppte sie und setzte sich verdutzt auf einen Aprikosenzweig. Im Park wuchs eine neue Pflanze!
Eine Blumenpflanze oder ein blühender Baum. So ganz genau konnte die kleine Hummel das nicht erkennen.
Denn die neue Pflanze schimmerte herrlich in allen Farben, die man sich nur vorstellen kann. Außerdem verströmte sie einen unwiderstehlichen, wunderbaren Duft, dass es der kleinen Hummel ganz warm ums Herz wurde.
Wer hatte die denn gepflanzt? Und wann? Gestern jedenfalls war sie noch nicht da! Das musste wohl eine exotische Pflanze sein. Denn eine solche hatte die kleine Hummel noch nie gesehen und auch nicht gerochen.
Die kleine Hummel sah sich um. Niemand schien von der neuen Pflanze Notiz zu nehmen. Alle gingen wie immer ihres Weges.
Die Ameisen liefen fleißig ihre Straßen entlang und transportierten dies und das. Die Vögel zwitscherten, ab ob es ein ganz normaler Morgen wäre. Die kleinen Mäuse, die unter dem Kiwibaum wohnten, dösten in der Sonne. Die Papageien machten ein Riesengeschrei wegen einer Apfelsine, als ob es diese neue Blüten-Pflanze im Park gar nicht geben würde.
"Komisch!", dachte die kleine Hummel und flog näher heran, um die Pflanze genauer anzusehen.
Der Duft war wirklich unglaublich! Nicht zu süß und nicht zu herb, nicht zu stark aber auch nicht zu schwach, verlockend aber nicht verführerisch, angenehm aber nicht betäubend . . . Das musste eine wirklich fremdartige Pflanze sein!
Die kleine Hummel flog jetzt dicht vor der Pflanze auf und ab. Noch immer konnte sie nicht genau erkennen, ob es eigentlich ein Baum, ein Strauch oder eine große Blume war. Denn sie strömte nicht nur Duft aus sondern irgendwie auch Farben. Obwohl das Pflanzen normalerweise nicht tun. Aber da diese ja wohl eindeutig exotisch war, konnte so etwas ja vielleicht in anderen Gegenden oder Ländern möglich sein.
Die kleine Hummel wagte sich noch näher heran. Und siehe da, jetzt entdeckte sie inmitten der Farbenflut an der fremdartigen Pflanze etwas, das aussah wie eine Art kleiner Ast. Die kleine Hummel beschloss, darauf zu landen.
Vorsichtig faltete sie ihre beiden ungleichmäßig farbigen Flügel zusammen. Dann trippelte sie mit ihren Füßchen, um den richtigen Halt zu finden und tastete mit ihren Fühlern auf dem Ästchen herum.
Plötzlich erzitterte das Ästchen, ja der ganze Stamm, das ganze Bäumchen oder Sträuchchen heftig. Die Riesenblume begann fürchterlich zu beben. Der kleinen Hummel wurde es Himmelangst zu mute. So schnell sie konnte, erhob sie sich und summte dicht vor der Pflanze in der Luft.
"Hatschti!", tönte es plötzlich laut, und die Pflanze kam wieder zur Ruhe.
"Wie bitte?" fragte die kleine Hummel ungläubig.
"Habe ich da eben eine Pflanze niesen gehört?" "Wenn du mich so kitzelst, dann werde ich wohl niesen müssen!", antwortete die Pflanze freundlich - allerdings mit einer Menschenstimme.Die kleine Hummel erschrak gehörig. So etwas hatte sie ja noch nie erlebt. Eine Pflanze, die sprechen kann! Aber andere Länder andere Sitten!, dachte sie und fragte neugierig nach. "Wo kommst du denn her, wenn ich fragen darf? Bist du ein Baum, ein Strauch oder eine große Blume? Und ist es bei euch üblich, dass Pflanzen sprechen? - und auch niesen?", fügte sie nachträglich noch dazu.
Den, den die Hummel da ansprach, war kein anderer als der Boeddha, der in der Nacht in den Park gekommen war und sich am frühen Morgen zum Meditieren hingesetzt hatte.
In seiner Weisheit erkannte er gleich, dass dies keine gewöhnliche Hummel war, sondern eine ausgesprochen kluge, freundliche und mutige. Auch verstand er gleich, dass sie glaubte, er sei eine Pflanze. Warum sie das glaubte, war ihm allerdings nicht klar. Normalerweise erkannten Menschen und Tiere gleich, dass er ein Mensch war.
Deshalb fragte er freundlich nach: "Ich bin ein Mensch. Wieso glaubst du denn, dass ich eine Pflanze bin? Hast du etwa noch nie Menschen gesehen?"
"Ein Mensch?" Die kleine Hummel sah ihn aus großen Augen an.
"Du bist ein Mensch?", fragte sie und sah sich nach einem Versteck um, für den Fall, dass er gleich ein Buch, einen Schuh oder sonst was heben würde, um sie zu verjagen.
"Natürlich bin ich ein Mensch!", der Boeddha nickte.
"Aber ich habe noch niemals Menschen getroffen, die so gut duften wie du. Du duftest noch besser als alle Blumen, die ich kenne, musst du wissen.
Außerdem. . . Woher hast du dieses ganze farbige Leuchten, das von dir strahlt, als ob du ein buntes Blütenblättergewand anhättest?", fragte die kleine Hummel und stellte dabei erleichtert fest, dass dieser Mensch anscheinend den Unterschied zwischen Wespen, Bienen und Hummeln kannte. Er schien jedenfalls nicht die Absicht zu haben, sie zu verjagen. Fröhlich flog sie vor dem Boeddha auf und ab.
Der Boeddha schaute sich die Hummel näher an. Sie war nicht nur eine ganz besonders kluge, mutige und freundliche Hummel, sondern auch die schönste, die er seit langem gesehen hatte. Sie hatte ja zwei verschiedenfarbige Flügel!
Und sie brummte so witzig vor sich hin, dass der Boeddha schmunzeln musste. Außerdem schien sie ganz besonders feinfühlig zu sein, sonst hätte sie niemals sein inneres Glückstrahlen, das von seiner Erleuchtung herrührte, sehen können. Und den Duft, den er verströmte, das hatte auch noch kein Mensch und kein Tier bis jetzt gerochen.
Deshalb war dem Boeddha klar, dass er es bei der kleinen Hummel, die da vor seiner vor seiner Nase auf und ab flog, mit einer wirklich außergewöhnlichen Hummel zu tun hatte.
Er antwortete. "Kleine Hummel, das freut mich sehr, dass du mich für eine Blume gehalten hast. Wirklich."
"Aber warum sieht du überhaupt aus wie ein Blume?", die kleine Hummel ließ nicht locker.
"Hm. Wie soll ich dir das erklären, so dass du es verstehen kannst?" Der Boeddha dachte nach. Die Hummel fasste Vertrauen und ließ sich in seinen Händen nieder, die er zu einem weit geöffneten Blütenkelch geformt in seinem Schoß hielt. Gespannt wartete sie auf seine Antwort.
"Eigentlich hast du sogar Recht, kleine Hummel", sagte der Boeddha schließlich, und nickte dabei anerkennend. "Obwohl ich ein Mensch bin, bin ich irgendwie auch eine Blume, denn ich habe herausgefunden, wie die Menschen blühen können."
"Was heißt hier blühen? Menschen blühen doch nicht?", die kleine Hummel verstand nicht.
"Hm!", meinte nun der Boeddha und dachte wieder nach.
"Was würdest du sagen, was Blühen ist?", fragte der Boeddha nun die kleine Hummel. "Wie würdest du Blühen beschreiben?"
"Blühen, Blühen, ähm Blühen...", die kleine Hummel stotterte, wie sollte sie so etwas wie Blühen beschreiben? "Blühen ist das Schönste, was es bei Pflanzen gibt. Es ist wie ein wunderschöner Sommertag, wie ganz viel Honig, wie ein Freudenlied. Es ist, wie wenn aus einer Raupe ein Schmetterling wird. Wenn eine Blütenknospe sich öffnet und ihr schönstes Blütenkleid zeigt, ist es so, wenn aus einer Raupe ein Schmetterling wird."
"Das hört sich schön an!", dem Boeddha gefiel, was die kleine Hummel sagte.
Deshalb überlegte sie weiter. Schließlich sagte sie: "Wenn es keine Blüten gäbe, dann wäre es, wie wenn die Welt keine Sonne hätte. Blühen ist wie das Licht!" Zufrieden über ihre Erklärungen sah sie jetzt erwartungsvoll den Boeddha an.
"Sehr schön gesagt, kleine Hummel. Jetzt will ich dir erklären, was Blühen für einen Mensch bedeutet: Es gibt Menschen, leider sehr viele Menschen, die blühen nie, die sind nicht mal Knospen, verstehst du, wie ich das meine?"
Der Boeddha spürte, dass die kleine Hummel ihn verstanden hatte. Deshalb sprach er weiter:
"Dann gibt es Menschen, die sind wie eine Knospe. Wenn sie ein bisschen mehr Sonne hätten, dann könnten sie vielleicht blühen. Vielleicht liegt es auch am Boden, oder am Wind. Aber man spürt, wenn irgendetwas dazukommt, dann könnten sie blühen. Verstehst du das?"
Die kleine Hummel dachte nach. "Das werden wohl die Menschen sein, die erkennen, dass ich eine Hummel bin", überlegte sie. Dann dachte sie an all die Menschen, die sie kannte, die sahen, dass sie keine Wespe und keine Biene war. Und dabei fiel ihr auf, dass diese Menschen irgendwie heller und wärmer waren. Die nahmen sich auch die Zeit, genauer hinzusehen. Die griffen nicht gleich nach etwas, womit sie um sich schlagen konnten. Die waren irgendwie ruhiger. Da erinnerte sie sich, dass diese Art Menschen auch mal lächelten, dass sie manchmal sogar ein Lied sangen. Das sind also Knospen-Menschen, die kleine Hummel verstand.
"Heißt das, blühende Menschen, so wie du einer bist, sind also wie eine Sonne in der Welt? Kann man das so sagen?", fragte die kleine Hummel wissbegierig.
"Hm." Der Boeddha überlegte. Schließlich sagte er: "Ja, so ungefähr kann man es sehen."
"Können Hummeln vielleicht auch blühen?", fragte sie neugierig. Das Gespräch hatte sie auf ganz neue Gedanken gebracht. Vielleicht gab es im Hummelleben noch etwas Schöneres und Fröhlicheres als Honigsammeln und die echten Blumen besuchen. Vielleicht konnte sie auch ein duftendes Blütenkleid bekommen, so eines, wie des Boeddha es trug.
Der Boeddha lächelte. Dann nickte er. "Es steht dem nichts im Weg. Natürlich können Hummeln das auch."
"Und was muss ich tun?" Die kleine Hummel blickte den Boeddha aus großen Augen an.
"Tu, was die Sonne tut: Bring Freude, Wärme, Kraft und Freundlichkeit zu allen Wesen."
"Zu allen? Du meinst wirklich alle?", fragte die kleine Hummel und sorgte sich dann doch ein wenig. Sollte das heißen auch zu den Bienen und Wespen, und zu den Menschen, die nicht mal Knospen waren?
Ernst sah der Boeddha sie an. "Ja, zu wirklich allen. Ohne Ausnahme. Sei allen eine Sonne."
Die kleine Hummel erhob sich, flog drei Runden um den sitzenden Boeddha, und dabei strahlte das Sonnenlicht in ihren Flügeln auf. Es blinkte blau und grün, wie Juwelen blitzte es. Dann schwirrte die Hummel davon. In ihrem unverwechselbaren Schrägflug summte sie durch die Wiese. Irgendwann hatte der Boeddha sie aus den Augen verloren.
Es vergingen Tage und Wochen, die Hummel kam nicht zurück. Der Boeddha machte sich schon Sorgen.
Ob es richtig gewesen war, so mit der kleinen Hummel zu sprechen? Doch immer wenn er mit seinem Herzen das Herz der kleinen Hummel suchte, spürte er, dass es ihr gut ging. Also war es wohl richtig gewesen, mit der kleinen Hummel über das Blühen zu sprechen. Und als ein paar Monate vergangen waren, da fühlte der Boeddha plötzlich, dass irgendetwas in der Welt geschehen war. Es war anders, als noch am Tag zuvor. Was war geschehen?
Früh am Morgen schon war er aufgewacht und hatte sich tief in die Meditation versenkt. Plötzlich kitzelte ihn etwas auf seiner Nase.
Ganz sanft und wenig nur, aber es reichte, um den Boeddha aus seiner Meditation zu holen, denn ein großes Niesen baute sich in seiner Nase auf....
"Hatschi!" der Boeddha schlug die Augen auf.
Noch bevor er etwas sah, roch er es schon. Ein unbeschreiblich schöner, wunderbarer Duft. Nicht zu süß und nicht zu herb, nicht zu stark aber auch nicht zu schwach, verlockend aber nicht verführerisch, angenehm aber nicht betäubend.
Der Boeddha lächelte, als die Hummel sich in seinen Handflächen niederließ. Ein wunderschönes Licht hüllte sie ein, gelb, rot, grün und blau strahlte um die Wette. Und es kam nicht von ihren Flügeln . . .